In der sehr empfehlenswerten Veranstaltungsreihe Open Divide 2025/2026 vom 28. Mai 2025 berichteten Thomas Parisot (Directeur Général Adjoint Cairn.info, France) und Yann Mahé (Managing Director at MyScienceWork, France) unter der Überschrift “Open Science and the Information Industry: French Debates and Insights. An analysis of the French debate on open science, the challenges and opportunities for the information industry“ über die Geschichte und den – bisher unabgeschlossenen – Verlauf der Etablierung von Open Science in Frankreich.
Beides weist Parallelen zur Entwicklung in Deutschland auf. Die frühen Erklärungen (Budapest 2001, Berlin, 2003) wurden als Initialereignisse erwähnt, DORA und Plan S als Entwicklungsetappen. In der Präsentation wurde nicht zuletzt ein interessanter, oft aber nur implizit berücksichtigter Gesichtspunkt deutlich, nämlich eine diskursive Rolle solcher Erklärungen und Declarations: Sie markieren Schlüsselereignisse in einer Zeitlinie und erlauben so eine Art narrative Strukturierung eines Prozesses. Das sollte man auch in Hinblick auf die Wirksamkeit derartiger Verlautbarungen nicht unterschätzen.
Daher lautet mein erstes Takeaway, das zugleich eine These darstellt:
Wir brauchen Declarations bereits als Ereignismarkierungen für die Selbsterzählung solcher Entwicklungen.
Ebenso als vor allem performativ wirksam wurde in Frankreich offenbar die Verabschiedung eines Zweitveröffentlichungsrechts im Jahr 2016 nach dem Loi pour une République numérique angesehen. (Eine Erläuterung gibt es beispielsweise auf dieser Informationsseite der Université de Lille) Dies legt für die MINT-Disziplinen ein Embargo von sechs Monaten, für die Geistes- und Sozialwissenschaften eines von zwölf Monaten fest. Interessant ist also, wie hier unterschiedliche Publikationskulturen berücksichtigt werden.
Auf politischer Ebene wurde Open Science – bzw. La Science Ouverte – seit 2018 mit zwei Nationalen Aktionsplänen adressiert. Der erste Plan (2018 bis 2020) zielte in die Breite und sollte nach meinem Verständnis vor allem erst einmal das Thema setzen. Im zweiten Plan von 2021 bis 2024 wurden strategische Linien formuliert und Zielpunkte konkretisiert. Zugleich geht man in der französischen Politik nun davon aus, dass die Grundlagen von Open Science etabliert sind.
Einige Indikatoren scheinen in die Richtung zu weisen. Immerhin erscheinen mittlerweile zwei Drittel der wissenschaftlichen Publikationen (bzw. alle, die eine DOI haben) in Frankreich Open Access. In den Geisteswissenschaften gibt es jedoch auch noch stellenweise eine Print-only-Kultur. Generell fühlen sich einige Fachkulturen, hauptsächlich die Geistes- und Sozialwissenschaften, bei den Entwicklungen in Sachen Open Science je nach Interpretation übergangen oder unzureichend berücksichtigt.
Wenig überraschend lautet daher ein zweites Takeaway:
Die Differenz zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften existiert auch in Frankreich.
Ein interessanter, zugleich ebenso erwartbarer Unterschied zu Deutschland ist jedoch, dass aufgrund der Zentralisierung der Politik und auch der Wissenschaftspolitik in Frankreich direkter entschieden werden kann.
Die Entwicklungen zu Open Science werden in einem Dashboard, dem “French Open Science Monitor” (bzw. Baromètre francaise de la Science Ouverte) dokumentiert. Dieser zeigt, dass die Messung des Open-Access-Publizierens ziemlich gut funktioniert. Andere für Open Science relevante Aspekte befinden sich aber noch in der Beta-Variante. Zudem misst das Barometer der offenen Wissenschaft in Frankreich in der Hauptsache harte Publikationszahlen. Die Frage des eigentlichen Kulturwandels wird dadurch noch nicht beantwortet, wie auch an anderer Stelle deutlich wurde.
Die Frage der Anreize präsentiert sich dabei als zentral. Man versuchte des mit dem verpflichtenden Weg der Mandatierungen, scheiterte aber am Widerstand an der Publikationsbasis, also den Publizierenden in den Hochschulen. Hier haben wir also wieder eine Parallele zu Deutschland.
Und es gibt noch eine weitere: Zu Beginn der Open-Access-Entwicklung setzte man auch in Frankreich sehr stark auf institutionelle Repositorien und Green-OA, was auch mit dem Zweitveröffentlichungsrecht harmonierte. Und man fuhr damit anscheinend recht gut, bis die Transformationsverträge kamen. Seitdem ist Green-OA ein Gegenstand ohne weitere Entwicklungsdynamik.
Im Gegenzug dazu galt Gold-OA in Frankreich lange eher als verpönt. Nun hat sich aber offenbar durchgesetzt. Diamond OA schließlich wird sehr geschätzt, die Finanzierung bleibt aber eine Herausforderung. Während wir in Deutschland zu diesem Thema derzeit auf die DFG und die „Servicestelle Diamond Open Access“ (SeDOA) schauen, schaut man in Frankreich sehr auf die EU.
Zum Farbspektrum von Open Access bleibt also auch für Frankreich dieses Takeaway:
Transformationsverträge schwächen Green OA, stärken Gold OA und fördern abstrakt den Wunsch nach Diamond OA. Letzteres ist aber in der Finanzierung schwierig.
Für Open Science im engeren Sinn ist interessant, dass ein Viertel der wissenschaftlichen Publikationen in Frankreich offenbar Supplemente haben oder präziser: erwähnen („mentionnent le partage de leurs données“), die man auch als Datenpublikationen bezeichnen kann. Die Tendenz hierbei ist steigend. Die Vortragenden erläuterten den Erfolg als Folge eines Drucks von Förderern. Dieser und nicht etwa ein tiefer Wunsch nach Openness sei in vielen Fällen die zentrale Motivation. Auch ginge es bei der Datenpublikation selten um Nachnutzungen und meist um die – geforderte – Transparenz zur Absicherung der Forschungsintegrität und damit also um eine schlichte wissenschaftliche Qualitätssicherung.
Generell konstatierten die Vortragenden, dass beim Thema Nachnutzung noch sehr viele Fragen offen bleiben. Dazu kommt, dass Forschende die Anforderungen von Open Science bisher vor allem als Zusatzbelastung ansehen.
Für Open Science lässt sich also festhalten:
Offene Datenpublikationen sind im Kommen, aber aus einem externen Druck heraus und selten mit dem Ziel der Nachnutzung.
Eine aktuelle Entwicklung macht es Open Access und Open Science zusätzlich schwer: Als Themen konkurrieren sie innerhalb der Hochschulen stark mit anderen, darunter, wenig verblüffend, aktuell auch Künstliche Intelligenz. Ressourcen und Aufmerksamkeit wandern in diese Richtung ab. Für die Vortragenden legt dieser Trend nah, dass die in den Bereichen Open Access und Open Science Aktiven die Künstliche Intelligenz in ihre Themenkomplexe integrieren sollten.
Ansatzpunkte gibt es genug und viele von ihnen lassen sogar auf eine Rückkehr eine Open-Access- und Open-Science-Skepsis schließen. So kommt das Thema des Datenschutzes noch einmal massiv in die Debatte. Gleiches gilt für den Aspekt der Kontrolle über eventuelle Nachnutzungen der eigenen Werke. In Frankreich wollen viele Autor*innen nicht, dass große, insbesondere kommerzielle Sprachmodelle auf ihren dank Open Access und Open Science offenen Daten und Texten trainieren. Unerwähnt, aber sehr spannend wird sein, was das für Creative Commons bedeutet.
Generell lautet die digitalethische Leitfrage: Welche Art von KI wollen und sollen Open Access und Open Science unterstützen?
Damit verbunden steht das fünfte Takeaway:
KI ist der Hype und bindet die Aufmerksamkeit. Open Access und Open Science sollten ihre Schnittpunkte zu KI stärker akzentuieren, um wieder in den Fokus zu kommen.
So schloss der Input denn auch mit drei ethischen Stichpunkten, die als Anregung auch in die deutschen Diskussionen einfließen dürften:
1 Was heißt Forschungsintegrität unter den Bedingungen von Openness und Künstlicher Intelligenz?
2 Wie erzeugt und stabilisiert man Vertrauen zwischen den Stakeholdern? Welche Rolle spielt dieses Vertrauen?
3 Open Science muss sein Selbstbild, seine ethischen Grundlagen sowie seine Ansprüche neu kalibrieren. Ein Trendbegriff ist hier wohl Digital Sobriety. Auf Deutsch würde man vielleicht von „digitaler Achtsamkeit“ sprechen.
Ben Kaden